Im September nimmt meine Protagonistin aus dem Buch „Reisen, um zurückzukehren“
euch mit zu einer Radtour an der Donau entlang.
Eine Urlaubsfahrt mit Erinnerungen an eine Zeit, die Wunden hinterlassen hat,
aber in der schönen Natur mit einem lieben Menschen an der Seite heilend wirkt.
Von West nach Ost – von Passau nach Wien
Warum kommen ihr gerade jetzt die Erinnerungen an zurückliegende Zeiten?
Sie legt sich auf das schmale Bett, verschränkt die Hände hinter dem Kopf, starrt zur Kabinendecke. Peter hat die Fahrräder an Deck abgegeben und sortiert jetzt alle Kleidungsstücke in den Spind. Dann liest er ihr aus dem Reiseprospekt die zu erwartenden Fahrradetappen vor.
Es rauscht, rattert und schaukelt. Eine Schiffsfahrt auf der Donau hat sie sich ruhiger vorgestellt.
»Es ist ein russisches Schiff, angemietet von einem westlichen Reiseunternehmen. Wir machen eine Donau-Radtour mit einem fahrenden Hotel auf dem Fluss, und keine luxuriöse Kreuzfahrt«, argwöhnt Peter.
Ihre Kabine liegt am Anfang des schmalen Ganges. Große Rohre an der Deckenwand weisen den Weg zu Duschräumen und Toiletten. Sie schwankt hin und her.
Peter stört es nicht. Er bewegt sich galant durch die Gänge hin zum Speiseraum. Es wird ihnen ein Tisch am Fenster zugeteilt, unweit vom Buffet. Der Speiseraum ist prunkvoll eingerichtet, von einem Kronleuchter erhellt. »Typisch russisch«, meint Peter.
»Woher kennst du russische Kultur?« Die Betonung liegt auf du.
Peter fürchtet sicher, dass sie jetzt wieder von ihrem Schüleraustausch in Moskau anfängt.
Aber es kommen ganz andere Gedanken in ihr hoch …
Als sie sich beide am Tisch gegenübersitzen, der Kellner ihnen den Wein eingossen hat, erklingt über ein Megafon die Stimme des Kapitäns. Er begrüßt alle Urlauber, wünscht einen angenehmen Aufenthalt an Bord und einen schönen Urlaub an Deck des Donauschiffes: »Sie können den Abend bei Musik und alkoholischen Getränken ausklingen lassen. Am Morgen beginnt ihre erste Fahrradetappe. Wir fahren mit unserem Hotelschiff nebenher und das Schiff erwartet Sie jeweils am Abend wieder an Bord.«
Peter prostet ihr zu: »Warum schaust du so ernst?« Ohne seinen fragenden Blick von ihrem Gesicht abzuwenden, ist ihr klar, dass sie reden muss.
»Du willst wissen, warum ich so melancholisch gestimmt bin. Hast du in Passau an der Touristeninformation das Plakat gelesen: Tor zur Freiheit – wir gedenken an 25 Jahre Mauerfall.
Ich habe dir nie davon erzählt. Ich war damals dabei, als die ungarische Regierung es Anfang September 1989 möglich machte, über Österreich aus der damaligen DDR in die Bundesrepublik einzuwandern. Mit Freunden, einem Rucksack und viel Angst im Rücken war es uns gelungen, in den Westen zu kommen. Im Passauer Land hatten wir als Geflüchtete erstmals seit dem Mauerbau wieder bundesdeutschen Boden unter unseren Füßen. Für uns war diese Region das Tor zur Freiheit.«
»Ach, deshalb bis du so still und ernst. Ich wusste nicht …«, er räuspert sich nervös,
»das ist doch Vergangenheit! Und welch ein Glück für mich, ich hätte dich nie kennengelernt. Komm, vergiss es und freue dich auf unseren Radurlaub, okay?«
Sie lassen ihre Gläser klingen, ein letzter Blick auf Passau, die Türme, den Stephansdom, die Dächer der Altstadt. In der Kabine kann sie entspannen. Peters Lippen tasten über ihr Gesicht. Ihren Kopf zwischen seinem Ellenbogen, auf seiner Brust gebettet, liest er ihr aus dem Reiseführer vor.
Am nächsten Tag bekommen sie ihre Fahrräder und Radtaschen zugeteilt, und die erste Etappe beginnt. Man ist sich selbst überlassen, muss sich nicht gleich mit dem Radfahrerpulk fortbewegen. Sie lassen die Radler davonbrausen, setzen sich auf eine Bank unter einen Ahornbaum und genießen erst einmal zu zweit die morgendliche Stille.
Peter nimmt ihre Hand in seine: »Du bist immer noch mit deinen Gedanken in der Vergangenheit?«
»Ich habe damals mein Elternhaus verlassen und meine Geschwister, nur um meinem Freund, meiner ersten Liebe, zu folgen. Er, der von Wohlstand, Freiheit, Glanz und Glimmer faselte, ein Jahr mit mir im Flüchtlingslager hauste, ist dann in der Drogenszene gelandet. Meine Eltern haben mir meine heimliche Flucht nie verziehen.«
»Sieh einmal auf das Wasser. Der Fluss, er fließt langsam immer gen Osten, und wir begleiten ihn jetzt«, sagt er tröstend.
Sie geht ihren Erinnerungen nach, vor allem in Bildern. Alle Bilder sind vom gleichen Grau, ärmer an Kontrasten als am Morgen. Sie überfliegt eines nach dem anderen, so wie man die Seiten eines Buches durchblättert, das man zu Ende lesen muss.
Sie atmet tief ein und aus: »Komm Peter, wir fahren los.«
Rechts des Weges die glatte Fläche des Flusses. Links die grünen Wiesen mit Farbe bestückt, Raps, Löwenzahn, Sommergras.
Nach einigen Kilometern sieht sie in der Ferne einen Maschendrahtzaun, der sich in unendlicher Weite über Wiesen und Äcker hinzieht. Als sie in Zaunnähe kommt, steigt sie abrupt vom Rad, Peter kann gerade noch zeitig genug bremsen. »Was ist los?«
Sie stellt das Fahrrad ab, läuft über die Wiese zum Zaun, streicht gedankenverloren über den Maschendraht. Eine Hand berührt eine Zaunsäule, die andere Hand hängt lose herab und sucht das Loch im Zaun. Man hatte sich geschickt und schnell durch das Schlupfloch geschoben.
Sie war an dem Maschendraht hängengeblieben. Alles rannte weiter, niemand blickte zurück.
Sie sah sich schon verloren. Im Nichts hängend, den Tod vor Augen.
Irgendwann kam ihr Freund zurück und rettete sie.
Sie lehnt den Kopf gegen eine Säule, bis sie erkennt, dass die Zäune nicht mehr dieselben sind.
Alle Erinnerungen, alle Hoffnungen, Ziele und Ängste, die sich auf eine unbestimmte Zukunft gerichtet hatten, sind nicht mehr von Bedeutung. Sie nimmt ihr Fahrrad:
»Wir können weiterfahren. Alles okay!«
Nach sechs erholsamen und aktiven Tagen steht Wien auf dem Plan.
Das Schiff fährt ohne Pause nun auch nachts, seinem Ziel entgegen.
Eine Nacht, in der sie kaum Ruhe finden. Unter ihren Betten lärmt und kracht es aus dem Maschinenraum. Das leichte Säuseln des Wassers und die Stille werden plötzlich durch ein Hämmern und Klopfen unterbrochen. An Deck sind die Arbeiter aus dem Maschinenraum im Einsatz. Das Oberdeck muss abgebaut werden, damit das Schiff die Schleusendurchfahrt passieren kann. Russische und ukrainische Laute dringen an ihr Ohr.
Erinnerungen an ihre Schulzeit und acht Jahre Russischunterricht:
»Habt ihr in der Schule auch Russisch gelernt?«
Peter fasst sich an die Stirn: »Hier im Gehirn sind nur englische Vokabeln drin, und diese sehr bruchstückartig. Mit mir kannst du nicht nach England oder Russland fahren. Ich war nie ein Sprachgenie.« Ihm scheint seine spontane Aussage peinlich zu sein, er stürmt nach oben:
»Ich schaue mir mal an, wie russische Schiffe und ihre Besatzung funktionieren.«
Am letzten Abend gibt es auf dem Schiff eine Abschiedsveranstaltung.
Das gesamte Schiffspersonal hat ein Programm einstudiert.
Zunächst stellen sich alle noch einmal den Gästen persönlich vor.
In gebrochenem Deutsch erfahren die Urlauber, dass die Reinigungskraft und Toilettenfrau eine Gesangsausbildung hat und vor Kurzem noch Opernsängerin am Kiewer Schewtschenko-Opernhaus war. Zwei Arbeiter aus dem Maschinenraum, eigentlich Schriftsteller und Schauspieler, führen ein kleines Theaterstück auf. Der Barkeeper, der sie an Deck alle immer freundlich bedient hatte, spielt auf seinem Saxophon.
Alles ist eins: Musik, Dichtung, Raum, Licht, Bewegung – ein künstlerisch brillantes
Zusammenspiel. Das harmonische Miteinander des Personals ergibt für sie alle einen Sinn, der tiefer wirkt, als das bloße Nebeneinander.
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