In einer Ausstellung von Kunstwerken der Malerin Sabine Kambach sollten sich Schüler ein Gemälde aussuchen, um darüber eine Kurzgeschichte zu schreiben.
Diese, meine kleine Geschichte „Die Vernissage“ entstand im Zusammenhang mit der Schülerarbeit.
Eine Art Vorlage für die Schüler wie aus einem Bild eine Geschichte entstehen kann.
Die Villa umgeben von einer weitläufigen Parkanlage. Hecken, Sträucher, Bäume säulenartig zu beiden Seiten des Weges. Efeu windet sich um die Stämme.
Sie geht, an Wachholder und Rhododendron vorbei, zum prunkvollen Eingangsportal.
Eine Besucheransammlung an der Garderobe.
Als sie ihren Mantel abgegeben hat, reicht man ihr zur Begrüßung ein Glas Sekt.
Sie schaut sich im Eingangsbereich um. Zwei stattliche Säulen zieren den Treppenaufgang zur ersten Etage. Das Rondell aus Glas über ihr, typisch Jugendstil, denkt sie. Geschwungene Formen an den Decken, Ranken, Pflanzen- und Symbolmotive.
Als sie zum Saaleingang geht, schaut sie sich unsicher um. Sie kennt hier niemanden, hält sich krampfhaft an ihrem Sektglas fest. Sie nippt an ihrem Glas, und spürt im Nacken einen Blick auf sich gerichtet.
Es gibt Menschen, denkt sie, die so enorm viel Raum beanspruchen, dass sie präsent sind, bevor man sie überhaupt gesehen hat.
Er steht am Sektbüfett, seine Augen schauen auffällig lange in ihre Richtung.
Sie weiß nicht, ob er ins Nirgendwo starrt, oder zu ihr. Plötzlich steht der Mann neben ihr.
Sie spürt eine Hitzewelle im Gesicht, als er ihr mit dem Sektglas zuprostet.
Sein charmantes Lächeln schwebt durch die Luft und schlägt in ihr ein, als er sie anspricht: »Gehören Sie zu den Ausstellerinnen?«
Als sie verneint, redet er, als müsse er einen Vortrag vor einer Prüfungskommission halten:
»Diese Villa, Anfang des 20. Jahrhunderts als repräsentatives Jugendstilwohnhaus eines wohlhabenden Industrieellen erbaut, noch vor dem zweiten Weltkrieg in Staatseigentum übergegangen, hatte die Kriegswirren fast unbeschadet überstanden. Das Gebäude diente als Hospital, als Flüchtlingsunterkunft und nach einer Renovierung in den siebziger Jahren zunächst als Jugendclub, schließlich wurde es Kulturhaus.«
Fotos Villa Weigang Bautzen
Das anfänglich kurze Prickeln in ihr ist erlöscht.
Er faselt von kulturpolitischen Programmen, über kulturelle und künstlerische Tätigkeit.
Wie eine Erlösung als die Kuratorin mit der Eröffnungsrede beginnt.
Danach sucht sie zwischen dem Besucherpulk nach einem Fluchtweg. Doch sie muss feststellen, ohne Aufmerksamkeit zu erregen, kann sie aus diesem Raum nicht entkommen.
Als die Besucher sich in kleinen Grüppchen zusammenfinden, entfernt sie sich schließlich unauffällig, stellt ihr leeres Sektglas auf die Ablage, geht in den Ausstellungsraum.
Ihr Blick fällt auf ein Kunstwerk gleich neben dem Eingang:
Collage ohne Titel, der Name der Künstlerin ist ihr fremd.
Ein Auge schaut auf sie herab.
Schwarz auf weißem Grund. Mehrere Bleistiftstriche ineinander verflochten.
Das dunkle Auge, der Blick. Schwarzweiß kennt keine Zwischentöne,
differenziert nicht, unterscheidet nicht, denkt sie.
Das Augenlid bewegt sich, die Wimpern flattern.
Hat der Sekt ihren Blick getrübt?
Der Augapfel wird groß und größer, die Pupille deutet nach unten.
Ein helles Blau, wolkenartig mit Acryl an den rechten Rand des Bildes gepinselt.
Blau, die Farbe des Vertrauens, der Klarheit, der Ruhe und Harmonie.
Das Blau, es hat gerade eben etwas in ihr zum Schwingen gebracht.
Und dann ist da das Gelb, es strahlt Wärme aus.
Gelb, die Farbe der Kraft und der Klarheit, das Licht, die Energie.
Und das Profilbild:
Der Mensch hat mehrere Gesichter, denkt sie.
Ein Gesicht, das er der Öffentlichkeit zeigt,
ein zweites, das nur enge Freunde sehen und das dritte, wenn man allein ist.
Alle drei Gesichter geben Schutz und Struktur.
Als sie sich an den plaudernden Besuchergruppen vorbeischlängelt,
ist es, als schaue das Auge ihr hinterher.
Sie geht zum Eingangsbereich, nimmt ihre Garderobe entgegen,
zuckt leicht zusammen, als der Vielredner hinter ihr steht mit dem charmanten Lächeln,
das zu Beginn beim Sektempfang in ihr ein leichtes Prickeln hervorgerufen hatte:
»Darf ich Ihnen in den Mantel helfen?«
Sie lächelt zurück, spürt eine warme Hand auf ihrer Schulter.
»Danke«, und läuft leichten Schrittes zum Ausgang.
Auch als Prolog zu finden im Roman „Bunter Stoff“ ISBN 978-3754327814
www.christiane-schlenzig.de
Beitragsfotos: -kostenlos-pixabay




