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Die Hütte am Waldrand

von | 20. August 2023

Die Geschichte, die sich wunderbar für eine kleine Liegestuhl-Auszeit eignet, erinnert uns daran, wieder einmal nachzuforschen, wer oder was in unserem Leben regiert.

Gern bediene ich mich der Form des Märchens, wenn ich mich auf Wesentliches besinnen möchte. Vielleicht lassen auch Sie sich einladen, herauszufinden, wie der Unterschied zwischen „müssen“, „wollen“ und „dürfen“ unsere Tage in die ein oder andere Richtung lenkt.

 

 

Die Hütte am Waldrand

 

In einem Land, nicht weit von hier, hatte vor langer Zeit ein unerbittliches Wesen die Herrschaft übernommen. Es war ein rechtes Ungetüm. In einer steifen Uniform marschierte es umher und streifte gnadenlos jedem, dem es begegnete, unsichtbare Fesseln über.

Sein Name war ‚das ärgerliche Muss‘.

Die Menschen litten unter ihm, doch niemand lehnte sich auf. Seine Macht glich einer Schraubzwinge, die einengte und niederbeugte. Wo es auftauchte, überschattete ein dunkler Zwang jedes Wort, jedes Tun und jeden Gedanken. Niemand kam dahinter, warum die Tage grauer, die Pflichten schwerer und die Arbeit immer erdrückender wurde.

 

Nur eine Hütte am Waldrand hatte das ärgerliche Muss auf seinem Feldzug durch das Land übersehen. Hier lebte ein Mann, der sich zurückgezogen hatte, um dem Ungetüm aus dem Weg zu gehen. Bisher war ihm das gelungen. Hatte er deshalb stets ein fröhliches Lied auf den Lippen? Die Menschen im nahe gelegenen Dorf wunderten sich über sein vergnügtes Wesen. Wann immer sie in der Nähe zu tun hatten, schauten sie bei der Hütte des Waldarbeiters vorbei. Manchmal lud er sie ein hereinzukommen, doch keiner nahm sich Zeit dafür. Nur ein Gruß kam zurück. „Ich würde ja gern, aber du weißt doch, ich muss …“

Dann schaute ihnen der Mann kopfschüttelnd hinterher und war froh, an einem so abgelegenen Ort zu leben.

 

Eines Morgens streifte das ärgerliche Muss gerade in dieser Gegend umher, wie immer auf der Suche nach einem Opfer. Gierig wanderte sein Blick am Waldsaum entlang, da entdeckte es die gemütliche Behausung und rieb sich die Hände.

„Ha!“, rief es. „Hier war ich noch nie. Ich muss zeigen, wer Herr im Lande ist.“

Stramm marschierte es der Hütte entgegen, dann donnerte es mit der Faust an die Tür. Niemand bat es herein.

Das ärgerliche Muss wurde ein gewaltiges Stück ärgerlicher und bewegte sich schnaufend zum Fenster. Als es hinein stierte, sah es einen Mann auf der Bettkante sitzen, der sich reckte und streckte.

„Weißt du nicht, dass du aufstehen musst?“, brüllte es und fuchtelte drohend mit den Armen.

Der Mann wandte sich erstaunt um und rief: „Guten Morgen! Und … das muss ich ganz und gar nicht.“

Das ärgerliche Muss rieb sich die Ohren. Hörte es richtig? Noch nie hatte jemand gewagt, ihm zu widersprechen.

„Komm heraus, Mensch!“, befahl es. Dann mäßigte es seinen Ton. „Ich schenke dir zur Begrüßung eine Umarmung.“

Leise klirrten die unsichtbaren Ketten, die das Ungetüm mit sich trug. Gleich würden sie den Widerspenstigen umschlingen und gefügig machen. Hämisch grinsend murmelte es: „Du musst, du musst, du musst … Dir bleibt nichts anderes übrig.“

Da öffnete sich die Tür und der Mann trat auf die Schwelle. Aufrecht stand er da und sagte schlicht: „Ich muss nicht.“

Das ärgerliche Muss war so verblüfft, dass es vergaß, die Schlinge nach ihm auszuwerfen.

„Du musst nicht?“, schrie es und dampfende Wut stieg ihn ihm auf.

Doch der Mann zeigte keine Spur von Furcht.

Aus der Wut wurde Verwunderung und nach einer Weile Neugier.

„Du bist doch ein Mensch, oder nicht?“, vergewisserte sich das Ungetüm. „Alle Menschen müssen! Sie leben unter meiner Herrschaft! Ich sorge dafür, dass die Welt funktioniert!“

Der Mann biss sich lächelnd auf die Lippen und blieb still. Das brachte das ärgerliche Muss noch mehr in Rage.

„Du musst!“, schrie es.

„Ich muss nicht“, kam zurück.

Das Ungetüm wurde rot im Gesicht und schnaubte:

„Ich werde dich lehren, mir zu gehorchen!“

Es warf seine Fesseln aus, doch an der aufrechten Gestalt wollten sie nicht hängen bleiben. Der Mann hob die Schultern und sah sein Gegenüber schelmisch an.

Fassungslos über diese Dreistigkeit, beschloss das Ungetüm, sich einer List zu bedienen.

„Ich sehe, du bist ein besonderer Mensch. Du verdienst eine Ausnahme“, grunzte es scheinheilig. „Ich schlage dir einen Handel vor: Du musst nicht aufstehen. Nein, du musst es nicht. Nach einer Woche komme ich, um zu sehen, wie es dir ergangen ist.“ Es winkte ab. „Ich weiß es schon jetzt. Auf Knien wirst du mich anflehen, wieder Ordnung in dein Leben zu bringen. Ab diesem Tag verlange ich unbedingten Gehorsam von dir.“

Der Mann dachte nach, nickte und stellte seine Bedingung: „Wenn du Unrecht hast, wird der Spieß umgedreht. Dann wirst du tun, was ich dir sage.“

„Abgemacht!“ Das ärgerliche Muss stampfte davon und brabbelte vor sich hin:

„Nie und nimmer wird das geschehen. Ich kenne die Menschen. Er wird sich nicht aus dem Bett finden, den halben Tag wird er verschlafen. Was zu tun ist, bleibt liegen, bald geht ihm das Essen aus, und die saubere Kleidung auch. Was kaputt ist, wird nicht repariert … Wenn das Holz verbraucht ist, bleibt der Ofen kalt.“ Es schaute noch einmal zurück. „Hungrig und frierend wirst du mich erwarten und dich mir unterwerfen! So wie es die anderen tun.“

 

Aus: Eva Mutscher, Die Hütte am Waldrand

© 2023 Verlag am Eschbach, Verlagsgruppe Patmos in der Schwabenverlag AG, Ostfildern

ISBN-10 ‏ : ‎ 3987000198    ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3987000195

 

 

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