Home et|arrow_carrot-2right|9 Schriftsteller et|arrow_carrot-2right|9 Auszüge aus Romanen und Erzählungen - Christiane Schlenzig et|arrow_carrot-2right|9 Auf der Fahrt zur Großmutter

Auf der Fahrt zur Großmutter

von | 4. Dezember 2025

Bücher sind Schiffe, welche die weiten Meere der Zeit durcheilen.

Francis Bacon

 

Die Geschichten und Erzählungen aus meinen Büchern,

monatlich hier für Sie präsentiert,

haben mir gezeigt, wie schnell doch die Zeit verrinnt.

Nun also verabschiede ich mich mit der Dezember-Geschichte.

 

Auf der Fahrt zur Großmutter

 

 

 

 

 

 

Es ist der 24. Dezember, er dreht am Autoradio, sucht Musik, um in Weihnachtsstimmung zu kommen. Ihm fehlen die Schneeflocken, die er aus seiner Kindheit kennt, wenn er mit den Eltern zur Großmutter unterwegs war.

»Warum sind wir nicht früher losgefahren?«, Katjas Stimme neben ihm klingt ärgerlich,

sie rutscht tief in ihren Sitz hinein. »Es ist Heilig Abend. Großmutter wird warten.«

»Ach komm, es war doch nur ein kleiner Umweg. Nun können wir Großmutter von ihrem Geburtshaus erzählen, können berichten, wie denkmalgerecht, stilvoll ihr Umgebindehaus restauriert ist. Ist doch gut, dass kein dichter Schnee das Haus zugeschüttet hatte und das Häuschen uns weihnachtlich entgegen leuchtete.«

»Ja, du hast ja Recht. Zu den Weihnachtserinnerungen gehört auch Großmutters Häuschen«, Katja schaut nach vorn, als würde sie mit der Windschutzscheibe reden:

»Mir kommen Erinnerungen, wie wir mit Großmutter auf der Ofenbank gesessen haben.

Sie blätterte in ihrem Fotoalbum, erzählte uns von ihrer Familie, die sehr arm war.

Um etwas Geld zu verdienen, stellten sie in der Blockstube ihres Hauses einen Webstuhl auf. Dafür bekamen ihre Eltern ein jährliches Stuhlgeld. Und das handgewebte Leinen brachte auch etwas Geld ein. Wenn Großmutter erzählte, schaute sie in weite, verworrene Ferne.

Ihr Lächeln, wie ein Riss im Gesicht. Warum ist Großmutter damals eigentlich zu Vaclav nach Varnsdorf gezogen? Sie hätten in dem Haus wohnen bleiben können.

Sechzehn Kilometer, das ist doch für Vaclav keine Entfernung.«

» Es war Nachkriegszeit. Das Haus war kaum noch bewohnbar, und eine deutsche Frau zu heiraten, dann noch in Deutschland zu wohnen, das ging für einen Tschechen überhaupt nicht.« Er muss sich auf die Straße konzentrieren und hat jetzt keine Lust, die alten Geschichten wieder aufzuwärmen.

»Weißt du noch? Als wir die Großmutter in Varnsdorf besuchten, verzog Vaclav sich oft in seinen Schuppen zurück, Großmutters Augen  glänzten, wenn sie geheimnisvoll leise von Vaclavs Vorhaben sprach. Manchmal haben wir uns, wenn Vaclav unterwegs war, in den Schuppen geschlichen. Holzteile lagen überall, auf einer Werkbank Sägeblätter.

An der Bretterwand hing ein großer, mit Reißzwecken angepinnter Bauplan. Diverse Skizzen und Zahlen, daneben das Foto von Großmutters Umgebindehaus.

Vaclav baute Großmutters Geburtshaus in Miniatur, als es fertig war, hatte er es am Heilig Abend zwischen zwei leuchtenden Tannenbäumen und Lichterketten im Garten aufgestellt.«

Die Scheinwerfer graben sich durch die Nacht. Dunkelheit kriecht aus den Leitplanken. Baumstämme rechts und links der Straße, wie dämonische Gestalten.

Seine Hände umklammern das Lenkrad. Dichter Nebel jetzt.

»Weißt du noch?«, Katja erzählt, als wolle sie ihn wie mit einem fliegenden Teppich ins Wunderland Kindheit entführen.

»Wir fuhren oft mit Großmutter ins Lausitzer Bergland. Und nach der Wanderung ging es immer zu Großmutters Geburtshaus. Sie hielt nur ganz kurz an, drehte die Autoscheibe nach unten und schaute mit feuchten Augen. Das Haus sah verfallen aus, von Unkraut überwuchert. Die Haustür hing schief in den Angeln. Ein Umgebindehaus, das langsam immer mehr verfiel.

 

 

 

Ihr fröhliches Lachen, das sich bei der Wanderung wie ein bunter Luftballon in den Ästen der Bäume verfangen hatte, war augenblicklich verflogen. Danach ist Großmutter mit uns nur noch in den Winterferien, wenn Schnee lag, zu ihrem Haus gefahren.

Jetzt weiß ich auch warum …, sie wollte hinter dem schneebedeckten Haus ihre Erinnerung festhalten, wie Fotos in einem Album.«

Als habe Katja seine Erinnerungsgedanken erraten, versucht sie abzulenken und murmelt: »Ob Oma Martha uns mit einem Weihnachtsbaum, bunten Kugeln und Pfefferkuchengebäck empfängt? Kannst du vielleicht etwas schneller fahren?«

Svoboda. Das Namensschild am Türpfosten. Seit Vaclavs Tod schloss Martha die Haustür von Innen zu. Eine Klingel gab es nicht. Nun hat auch er seine Erinnerungsgedanken hervorgeholt. Klopfzeichen: Einmal lang. Dreimal kurz. Dann wusste sie, dass wir vor der Tür stehen. Martha öffnete, ließ uns schnell herein, drehte den großen eisernen Schlüssel zweimal herum. Erst dann nahm sie uns in die Arme.

»Weißt du noch?« Katja hat den ganzen Tag noch nicht so viel geredet, wie gerade jetzt.

Vielleicht will sie ihn wachhalten, vielleicht sind wirklich so viele Gedanken in ihr?

»Weißt du noch, wie Mutter die Geldscheine im Stoff der Sitzpolster versteckt hatte?

Dreißig Kronen Umtausch pro Tag, pro Person waren nur erlaubt.«

Er heftet seine Augen auf die Rücklichter eines alten Opel, bis das Rot im schmutzignassen Grau einer Seitenstraße verschwindet.

»Weißt du noch? Lange Autoschlangen vor dem Kontrollpunkt. Als wir endlich heranrollen durften und dem Beamten die Ausweise in das Fenster reichten, angstvolles Warten, bangende Minuten. Ein Grenzpolizist winkte uns zur Seite, wir mussten aussteigen … Warum wurden gerade wir immer kontrolliert?«

Plötzlich spricht Katja, als hätte sie etwas im Hals, als sitze dort etwas fest, als müsse sie auf dieses Etwas lauschen, das in der Kehle klemmt: »Weißt du noch, wie sie Vater einmal mit ins Kontrollhäuschen nahmen? Es war spät am Abend. Ein Uniformierter näherte sich:

Fahrzeugpapiere, Personalausweis. Wir blieben starr und unbeweglich im Auto sitzen, schauten zu dem schwach erleuchteten Fenster der Baracke, in der Vater verschwunden war. Uns war es, als knisterten unsere versteckten Geldscheine unter dem Stoff des Sitzes.

Die Minuten kamen uns wie Stunden vor.« Natürlich weiß er. So etwas vergisst man nicht.

Er hört noch die befehlend, forsche Stimme, erinnert sich an die vielen Stempel in Vaters Ausweis: Geldumtauschstempel, Ausreisestempel, Einreisestempel.

Ihre Worte schrauben sich um eine halbe Oktave nach oben, als sie weiterredet: »Schau mal, dort muss die Stelle mit dem Schlagbaum gewesen sein und das Kontrollhäuschen.«

Sein Wagen macht einen kräftigen Ruck. Zerrissene Nebelschwaden über einem von Grünspan befallenen Betonklotz. Die Fenster, schwarze Löcher jetzt. Seine Hände halten krampfhaft das Steuer. Er erschauert, hört das Knistern eines angerissenen Streichholzes.

Das Flämmchen flackert auf. Es wäre beinahe in seinem schwefligen Rauch erstickt und ausgegangen, es erglüht schließlich doch, erhellt für einen kurzen Augenblick ein Gesicht, kantig, steinig. Rabenschwarz der Blick: Nun doch ein altes Zittern.

 

Vision oder Wirklichkeit?  Aus dem Dunkel der Nacht dringt eine Schattengestalt.

Im Scheinwerferlicht wächst der Schatten riesenhaft – groß und größer.

 

 

 

 

Ein Winken mit ausgestrecktem Arm, wie ein Verkehrspolizist, der einen Verkehrssünder stoppt. Instinktiv tritt er auf die Bremse.

Ein Quietschen. Ein leichtes Schleudern auf dem feuchtgrauen Straßenbelag.

Ein schwarzer Kapuzenmensch steht vor ihm, auf seiner Brust klebt ein großer, weißer Totenkopf. Der Mann reißt die hintere Autotür auf, steigt ein, murmelt, mit einer, von einem Kaugummi behinderten Stimme, undeutliche Worte,  die Tür knallt zu. Wie ferngesteuert fährt er weiter. Er hätte nicht anhalten sollen! Ihm ist, als habe sich eine Klaue um seine Kehle gelegt und die Luft abgeschnürt. Der Brustkorb ist viel zu eng.

Er zwingt sich, so etwas Ähnliches zu tun wie atmen. Von hinten fliegen lauter tschechische Wortfetzen in seinen Nacken. Warum hat er ihn einsteigen lassen? Irgendwann wird diese Gestalt ihn zwingen anzuhalten. Wie hieß es in den Nachrichten? In den Grenzgebieten herrscht zurzeit eine besonders hohe Kriminalität. Man wird gnadenlos ausgeraubt.

Seine Hände kleben am Lenkrad. Er spürt, wie sich der Schweiß in seinen Achselhöhlen sammelt. Wann wird er das  kalte Metall im Nacken zu spüren bekommen? Wann? Wo?

In dem Waldstück da vorn? Weißt du noch …, seine Beifahrerin ist stumm geworden.

Hinter ihm das Kaugeräusch. Mit von Angst belegter Stimme versucht er das Schmatzen zu übertönen. Er stammelt wie ein Ausländer deutsche Laute nach hinten:

»Wir zu Babitschka fahren«, und er hofft, dass der Kapuzenmann das Zittern in seiner

Stimme überhört. »Babitschka wartet, sehr alt. Es ist Weihnachten. Wir«, und er weist mit einer Kopfbewegung auf seine Beifahrerin, die neben ihm bewegungslos in die Dunkelheit starrt,  »wir sie noch einmal besuchen. Du verstehen?« Dann endlich das Ortseingangsschild. Dunkle Schriftzeichen auf weißem Grund. Dort, wo der Asphalt in Schotter, der Schotter in Sand übergeht, legt sich eine Hand von hinten schwer und mächtig auf seine Schulter.

Er zuckt zusammen. Die Kaugummistimme wirft geräuschvolle Laute nach vorn:

»Prosim, hier ich aussteigen.« Die Autobremsen quietschen, Kies knirscht unter den Reifen. Der Tramper öffnet die Autotür, steigt aus. »Dékuje, frohe Weihnacht«, ein Klopfen an die Frontscheibe, ein Lächeln, ein freundliches Winken.

Der Kapuzenmann verschwindet im Dunkel der Nacht. Stille. Nur das Motorengeräusch ist zu hören. Erste Häuser im schwachen Licht der Straßenlampen. Neben ihm atmet es tief ein und aus: »Ich sehe schon…«, setzt Kaja an, wischt sich die Tränen aus den Augenwinkeln und zeigt nach vorn: »Großmutters Haus, ihr Adventsstern leuchtet über der Eingangstür.

Ich glaube, sie wartet schon.«

Erzählung aus „Kraniche im Ruderflug“ ISBN 9783741272844,

auch als E-Book erhältlich

 


www.christiane-schlenzig.de

Beitragsfotos: -kostenlos-pixabay

Oberlausitz-art bedankt sich bei Frau Christiane Schlenzig für die vielen kurzweiligen Erzählungen der letzten Monate. Für Ihre weitere schriftstellerische Arbeit wünschen wir viel Erfolg.

Pin It on Pinterest

Share This