
Der Schauspieler
Oktober – Eine Erinnerung an das Ende der 80iger Jahre.
Ein Kapitel aus dem Roman „Flügel zitternd im Wind“.
Die letzte Theatervorstellung vor der Sommerpause. Ein Schüleranrecht.
Ein letzter Theaterbesuch für die Abiturienten.
„Die Legende von Paul und Paula“ stand auf dem Programm. Nach dem erfolgreichen Film gab es nun eine Bühnenfassung.
Eine prickelnde Spannung als sich der rote Samtvorhang langsam öffnete. Die Bilder auf der Bühne, eine Flucht aus der Wirklichkeit in die Welt der Träume. In dem Drama sah sie ihn zum ersten Mal. Die Bewegung des schmalen, fast noch jungenhaften Körpers, die der Hände. Sie hörte seine Stimme. Es war, als ob er die Worte entkleidete. Manchmal schlichen sie sich nur ganz behutsam aus seinem Mund heraus – klangvoll, weich. Dann wieder dröhnten und polterten sie über den Bühnenboden.
Er, Student an der Schauspielschule im letzten Studienjahr, spielte den Paul so genial, so zu Herzen gehend. Sogar die ewigen Störenfriede saßen gebannt auf ihren Plätzen. Sie hatte, wie alle ihre Mitschüler, eine Rose mitgebracht.
Der Direktor der Schule und seine Schüler wollten dem Ende der Spielzeit – der letzten Vorstellung –- einen Akzent setzen. Ein Dankeschön an die Schauspieler. Die Blumen sollten am Ende, wenn sich der Vorhang ein letztes Mal öffnete, auf die Bühne geworfen werden.
Ihr Herz flattert erneut bei den Erinnerungen an jenen Abend: Sie hatte sich, als der Vorhang endgültig fiel, hinausgeschlichen, wartete mit ihrer roten Rose am Bühneneingang auf den Hauptdarsteller, und als er kam, war sie mutig auf ihn zugegangen und hatte ihm die Rose überreicht. Der Schauspieler hauchte einen Kuss auf die Blüte, schaute sie an:
»Danke Paula.« Ein blitzlichtartiges Strahlen in seinen Augen. Hatte er sie wirklich Paula genannt? Sie spürte heute noch das prickelnde Gefühl und die aufsteigende Röte in ihrem Gesicht.
Herbst 1989. Jahre waren vergangen. Er war wieder da.
Eine Gastrolle. Er spielte den Wang in Brechts Schauspiel: Der gute Mensch von Sezuan. Die Karten für die Schauspielpremiere waren schon seit Wochen ausverkauft. Das Theater war bis auf den letzten Platz gefüllt. Ein Knistern in der Luft. Ihr Herz flatterte. Sie hatte wieder eine Rose besorgt, diese sorgfältig in Seidenpapier gewickelt, in der Garderobe hinterlegt. Der Vorhang öffnete sich. Das Programmheft lag aufgeschlagen auf ihrem Schoß. Sie hatte seinen Namen gelesen und wollte in ihre alte Rolle schlüpfen, die des verliebten Teenies, aber es war viel Zeit verstrichen. Ihr Schauspieler hatte das Jungenhafte verloren. Er strahlte eine Reife aus, die sie auf ganz andere Weise faszinierte. Mit großer Hingabe spielte er den Wang in Brechts Stück. Sein Dialog mit den Göttern:
»… oh, du schwacher Mensch. Wo Gefahr ist, denkt er, gibt es keine Tapferkeit!«
Mit einem Glas Sekt drängte sie sich in der Pause in eine Ecke des Foyers. Sie suchte einen Ort der Stille, in dem die Gedanken ungehindert fließen konnten. Nach der Pause ließ sie sich in den roten Schalensessel fallen und blätterte nervös in ihrem Programmheft, der Vorhang öffnete sich wieder. Die Götter erschienen Wang im Traum. Wangs Stimme ließ sie erschauern. »Der einzige Ausweg wäre aus diesem Ungemach, Sie selber dächten auf der Stelle nach.« Und dann der Epilog: »Verehrtes Publikum, los, such dir selbst den Schluss, es muss ein guter werden …«
Eine bisher ungekannte, geeinte Lautlosigkeit im Saal, erst dann folgte ein lang anhaltender, tosender Beifall.
Der Vorhang war gefallen. Stille. Sekunden einer Ewigkeit vergingen.
Ihr Schauspieler trat noch einmal vor den Faltenwurf aus rotem Samt, auf den schmalen Grat von Bühnenrand und Vorhang:
»Wir eröffnen unseren Dialog mit der Regierung unseres Landes mit konkreten Vorschlägen und Forderungen …«
Forderungen, das war sehr gewagt! Ihr wurde ganz heiß. Forderungen auf Transparenten in einer riesigen Menschenansammlung auf der Straße waren etwas anderes als die einer kleinen Gruppe, aus dem Mund eines einzelnen.
Jedes gelesene Wort fiel aus seinem Mund, wie ein schwerer, kalter Stein. Kein Beifall, aber Zustimmung lag spürbar in der Luft, Bewunderung auch. Und eine Bangigkeit, die jeder einzelne Theaterbesucher in sich einschloss und speicherte. Hinter der Bühne war es ihr wie damals. Ein Glanz des Erkennens, des Erinnerns in seinen Augen: »Du? Wie lange ist es her, zwei Jahre oder mehr? Das Leben hat dich schöner werden lassen«, es sollte wohl ein Kompliment sein. Sie sah seine müde Haut, eine steile Falte auf seiner Stirn. Dann sah sie seine flatternde Unruhe und die Kehle wurde ihr eng, als sie seine brüchige Stimme hörte, sperrig wie Stacheldraht:
»Meine Bühne wird wohl jetzt eine andere werden. Ich lerne die Rolle des Inhaftierten, der die Gesetze und die Verfassung unseres Landes bis in jeden einzelnen Paragrafen im Kopf haben muss, um mich gegebenenfalls selbst verteidigen zu können. Verstehst du das?« Sie schaute ihn hilflos an. Die großen Gefühle fielen in sich zusammen. Sie trug seine Worte hinaus in die dunkle Herbstnacht.
Als sie auf die regennasse dunkle Straße hinaustrat, glaubte sie, mehrere Polizeiautos hinter der Buchenhecke zu erkennen, aufmerksam wie Raubvögel, die lauernd ihr Beutefeld überblicken.
Einen Monat später, die Erinnerung an die Theateraufführung ist noch spürbar nah in ihr und doch wie außerhalb jeglicher Zeit:
Mit aufgebrochenen Grenzen soll etwas zusammenwachsen.
Ein Beben in der Zeit. Ihr Schauspieler ist frei, seine Stimme schallt über den Theaterplatz mit neuer Kraft. Es fliegen Worte durch die Luft – mikrofongesteuert – und bleiben zwischen den Häuserwänden hängen.
Menschengruppen, in bisher schwer durchschaubaren Beziehungen zueinander, führen Gespräche und jeder lernt jeden nun anders kennen.
Dann steht ihr Schauspieler eines Tages vor ihrer Wohnungstür, für einen Augenblick ist sie wie gelähmt. Sein Lächeln ist weder das von Paul, noch von Wang, es ist das Lächeln, in das sie sich schon damals verliebt hatte. Wie viele Türen hat dieses Lächeln aufgestoßen? Einen Augenblick ist der Gedanke in ihr, dann überlässt sie sich dem Ansturm auf ihren Körper, ein Zittern, das von Sekunde zu Sekunde stärker wird. Seine Umarmung ist sanft und warm und im Nacken kitzelt eine Rose, rot und duftend.
Als sie sich voneinander lösen und er mit einer Unsicherheit in der Stimme fragt: »Kann ich bleiben?«, spürt sie ihr Herz wie einen weichen Schwamm oben in ihrer Kehle. Es ist ein warmer Sommerabend und sie sitzen bis lange nach Mitternacht auf dem Balkon. Er erzählt von neuen Worten, die wie bunte schillernde Seifenblasen vom Westen herüberschwappen.
»Die einzigartigen Worte der deutschen Sprache sind in Gefahr.
Die Wortspiele auf der Bühne … Wer will die jetzt hören? Wer will von Paul und Paula hören und deren Legende? Oder von Brecht?«
»Ich«, sagt sie zärtlich. »Du bist mein Wang!« Sie will aufheitern und schafft es doch nicht. Ihr Schauspieler kann erst seine Trauer abstreifen, als er neben ihr liegt, seinen Kopf in ihrem Haar vergraben. Und irgendwann hat er sich in ihren Armen weit weg geschlafen. Sie atmet den warmen Duft seiner Haut und findet noch lange keinen Schlaf.
Der Morgen hat die Stadt mit Sonne überschüttet. Sie führt ihren Wang durch die Straßen, die er nur vom Theater aus kennt.
Die schöne Altstadt. Sie liebt ihre Stadt. Die alten Gassen, die Stadtmauer, die Türme, den Dom.
Sie verweilen einen Moment lang im Eingangsbereich des Theaters.
Wie wird ein neuer Spielplan aussehen?
So wie das Markttreiben vor ihnen?
Sie versucht, ihren Wang von schwarzen Gedankengängen abzulenken und zieht ihn zum Marktplatz hin.
Auf dem Platz vor dem Rathaus herrscht reges Treiben.
»Das Rathaus mit der großen Sonnenuhr aus dem 17. Jahrhundert …«
Mit einem Wortsprudel aus Geschichtszahlen und Architektur hat sie ihn unter den Rathausturm geredet. Erst jetzt merkt sie, dass ihr Schauspieler unkonzentriert ist. Die Worte, die aus ihrem Mund weitersprudeln wollen, bleiben auf ihrer Zungenspitze hängen.
Ihr Schauspieler schaut mit stumpfen Augen. Einheimische Händler, Bauern aus den umliegenden Dörfern bieten aus eigenem Anbau ihr Gemüse an. Ein Obststand mit Äpfeln und Birnen.
Der Besitzer eines himmelblauen Trabants hat seinen Kofferraum zum Gemüsestand umfunktioniert. Unter seiner hochgeklappten Hecktür bietet er Zwiebeln und Tomaten an, liebevoll sortiert nach Größen.
Niemand nimmt Notiz davon. Ihr Rathaus verschwindet hinter einem großen bunten Zelt, in dem aufeinandergestapelte Bananenkisten winken. Eine Menschenschlange drängelt und schiebt. Sie blinzelt unauffällig aus schmalen Augenwinkeln zu ihrem Wang hinüber.
Aus einem Lautsprecher unterhalb des Rathausturmes dröhnt Schlagermusik: Eine neue Liebe, ist wie ein neues Leben …
Aus „Flügel zitternd im Wind“, Roman ISBN : 978-3750428904,
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